Page 11 - im Dialog 30 2019
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PRIVAT
Die Kraft der Rituale – alle Jahre wieder
Besinnliche Weihnachten – für die meisten Menschen ist diese christliche Feier fest mit bestimmten Traditionen verbunden.
Kein anderer Monat und kein an- deres Fest sind so stark von Ritualen geprägt wie der Dezember und Weih- nachten. Lichterketten, Plätzchenba- cken, Geschenke kaufen, Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, Festessen: Jeder pflegt Weihnachtstraditionen auf sei- ne Art. In vielen Familien gibt es feste Weihnachtsrituale, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Warum eigentlich pflegen wir in der heutigen aufgeklärten Zeit Rituale, die im Ursprung oft einen religiösen Hin- tergrund haben und aus längst vergan- genen Zeiten stammen?
„Rituale geben einen bestimmten Ablauf vor, der uns Ruhe und Sicherheit gibt“, sagt die Psychologin Meike Watz- lawik von der Technischen Universität Braunschweig. „Wir alle brauchen Ritua- le, um unsere Umwelt zu strukturieren. So haben wir das Gefühl, mehr Kontrolle zu haben.“ Hirnforscher wie Ernst Pöp- pel sehen in Ritualen so etwas wie Au- tomatismen, die das Leben erleichtern, strukturieren und ordnen. Was uns hilft, seine Komplexität zu reduzieren. „Das Geheimnis der Rituale besteht darin, dass sie Ausdruck impliziten Wissens sind.“ Implizites Wissen ist etwas, das wir kennen oder können, ohne sagen zu können, wie.
Das ist wohl auch der Grund, warum jeder in irgendeiner Form kleine Rituale in seinen Alltag einbaut. Wir sprechen etwa von Morgenritualen und wenn der
geordnete Ablauf von Kaffeemaschine anstellen, duschen, frühstücken, aus dem Haus gehen durcheinandergerät, kann das deutliche Auswirkungen auf die Stimmung und den Tagesverlauf haben.
Genau genommen sind derartige Alltagsrituale aber Gewohnheiten. Ein echtes Ritual ist mehr. Es ist in die jewei- lige Kultur einer Gesellschaft eingebun- den. Rituale sind Träger des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft, einer Familie oder einer Gruppe. Per definitio- nem ist ein Ritual eine nach vorgegebe- nen Regeln ablaufende, meist formelle Handlung mit Symbolgehalt. Ein Ritual kann religiöser oder weltlicher Art sein wie ein Gottesdienst, eine Begrüßung, eine Hochzeit, eine Aufnahmefeier oder eben das Weihnachtsfest. Rituale be- gleiten den Abschluss eines alten und den Beginn eines neuen Abschnitts. Taufe, Einschulung, Kommunion oder Konfirmation, Abiturfeier, Hochzeit, Ge- burtstage, Abschiede: Sie alle begleiten wir in der Regel mit festlichen Ritualen.
Rituale heben sich deutlich vom Alltag ab. Das macht sie zu etwas Be- sonderem. Jeder, der daran teilnimmt, verhält sich auch anders als im Alltag, meist langsamer, bedächtiger. Rituale – gerade durch die Verwendung von Gegenständen mit Symbolcharakter – haben die Kraft, uns mit unserer tieferen Sinnhaftigkeit in Verbindung zu bringen und Emotionen zu kanalisieren, wie zum Beispiel eine Trauerfeier, die ja auch der
jeweiligen Kultur entsprechend rituali- siert abläuft.
Gerade Symbole sind es, die uns mit bestimmten Gefühlen und Stimmungen in Verbindung bringen. Wer mit Symbo- len wie Kreuz, Kerze, weißem Brautkleid oder Weihnachten mit Christbaum und Plätzchen aufwächst, hat diese tief in sich verankert – unabhängig davon, ob er sie weiterführt oder nicht.
Der Geist von Weihnachten ist seit jeher der Wunsch
nach einem friedvollen Zusammenleben.
Vielleicht ist es dies implizite Wissen, dass uns Weihnachten jedes Jahr aufs Neue feiern lässt.
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